Gelassenheit ist jetzt also das Mittel der Wahl, auch wenn hinter den Kulissen die Unruhe wächst. Manuela Schwesig zum Beispiel, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, stellte am Montagmorgen demonstrativ ein Bild von sich ins Netz, es zeigte sie scheinbar unbekümmert beim Joggen. "Sportlicher Start in die Woche", stand da. Sie habe die Uralt-Schnulze "Last Christmas" auf den Ohren, teilte die SPD-Politikerin mit. Nur das etwas angestrengte Lächeln verriet, dass die Stimmung schon mal vorweihnachtlicher gewesen sein dürfte bei den Schwesigs. Nach Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) ist Schwesig die zweite bekannte Politikerin, der radikalisierte Impfgegner und Corona-Leugner zuletzt aufs Haus gerückt sind, mit Fackeln und Drohgebärden. Mehrere Hundert Menschen waren bei Dunkelheit in Richtung des Hauses der Ministerpräsidentin in Schwerin gezogen. Sie wurden von der Polizei gestoppt. Anderswo allerdings eskalierten am Wochenende die Proteste. Im thüringischen Greiz attackierten Impfgegner und Corona-Leugner Polizeibeamte mit Flaschen und Pyrotechnik und versuchten, eine Absperrung zu durchbrechen. 14 Sicherheitskräfte wurden nach Polizeiangaben verletzt, aber auch Demonstranten beendeten den Abend im Krankenhaus. Einige Demonstrationen greifen auf die Bildsprache des Nationalsozialismus zurück Pfefferspray und Schlagstöcke im baden-württembergischen Reutlingen, Angriffe auf Reporter in Leipzig, Festnahmen in Frankfurt am Main, Proteste im sächsischen Plauen, in Hamburg, Düsseldorf, Trier und Bayern - nicht nur die Aggression der Corona-Proteste wächst. Mit Fackeln, Trommeln und skandierten Parolen wird bei den Demonstrationen neuerdings auch auf die Bildsprache des Nationalsozialismus zurückgegriffen. Unmissverständlich steht da eine Drohung im Raum, die sich zunehmend gegen einzelne Politikerinnen und Politiker persönlich richtet: Kommt ihr uns mit Corona-Einschränkungen oder der Impfpflicht, dann wird es für euch gefährlich. In der Politik sind deshalb inzwischen einige alarmiert. "Die Dynamik besorgt mich", sagt etwa Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD). "Wir erleben, dass der Protest gewalttätiger wird." Allein in Thüringen gebe es eine halbe Million ungeimpfter Menschen, die angesichts immer strengerer Anti-Corona-Maßnahmen frustriert seien. Dazu komme die "rechtsradikale und rechtsextremistische AfD in Thüringen". Zusammen mit anderen Rechtsradikalen heize die Partei die Krawalle an, warnt Maier. Und da sei die Plattform Telegram, die den Frust als Echokammer verstärke. Telegram mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten ist längst zum wichtigen Forum militanter Corona-Leugner in Deutschland geworden. Die Plattform, die sich als Messengerdienst versteht, dient Rechtsextremisten und Reichsbürgern zur Vernetzung mit Impfskeptikern. Immer wieder kommt es zu Gewaltaufrufen. Staatliche Eingriffe verbittet sich der Anbieter. Die letzte Bundesregierung entschied, Telegram im Rahmen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes zu verfolgen. Zwei Bußgeldverfahren allerdings blieben seit Mai unbeantwortet, es läuft ein Rechtshilfeersuchen über die deutsche Botschaft in Abu Dhabi. Der neue Justizminister Marco Buschmann (FDP) sicherte am Montag zu, die Strafverfolgung werde fortgesetzt, auch wenn sie Zeit brauche. "Wir haben derzeit keine Erkenntnisse, dass die Anhörungsschreiben zugestellt wurden", sagte eine Sprecherin. Nötig sei, hier einen "europaweit einheitlichen Rechtsbereich" zu schaffen. Deutschlands Innenminister drängen unterdessen auf Vollzug. "Bei Telegram muss der Staat schnell reagieren", fordert Thüringens Innenminister Maier. Jeder Anbieter sei verpflichtet, Hass und Hetze aus dem Netz zu löschen und zur Anzeige zu bringen. "Tut er das nicht, müssen Sanktionen wie Bußgelder folgen", sagt Maier und warnt: "Am Ende der Spirale staatlichen Agierens kann auch das Geoblocking stehen." Das aber sei das Ende der Eskalationsstufe. "Davon sind wir noch weit entfernt." Wer Gewalt anwendet, muss mit harten Konsequenzen rechnen, sagt der Regierungssprecher Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte bereits am Wochenende angekündigt, härter gegen Telegram vorgehen zu wollen. Es sei aber nicht so, dass "fertige Maßnahmepläne auf dem Tisch" lägen, sagte ihr Sprecher. Unklar blieb am Montag auch, inwieweit die Bundesregierung sich in der Debatte über die allgemeine Impfpflicht von den Protesten beeindrucken lässt. Denn eine weitere Eskalation wünscht sich niemand. Vertreter mehrerer Parteien betonten, man betrachte die Proteste "differenziert". Demonstrieren sei erlaubt, aber wer Gewalt anwende oder Politiker einzuschüchtern versuche, habe eine "harte Konsequenz" zu erwarten, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Im Übrigen trete Bundeskanzler Olaf Scholz auch weiter für eine allgemeine Impfpflicht ein. Auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich betonte am Montag, die Debatte müsse "gewissenhaft, differenziert und offen" geführt werden. Über eine allgemeine Impfpflicht werde man in den nächsten Wochen beraten. "Wer dagegen mit Fackelzügen und Drohgebärden versucht, Menschen einzuschüchtern, begibt sich an den Rand unserer Demokratie oder auch darüber hinaus", sagte er der Süddeutschen Zeitung. Hinter den Protesten steckten oft Rechtsradikale, "und da hilft nur klare Kante", betonte der SPD-Innenpolitiker Lars Castellucci. Angesichts einer Radikalisierung, die bis zu Morddrohungen gegenüber Ministerpräsidenten gehen, müsse sich die "wehrhafte Demokratie" beweisen, sagte der Grünen-Politiker Konstantin von Notz. Der CDU-Innenpolitiker Mathias Middelberg warnte davor, sich bei politischen Entscheidungen von lautstarken Protestierern unter Druck setzen zu lassen. Maßstab in der Debatte um die Impfpflicht sei "unser Grundgesetz, nicht die Radikalität einer kleinen Minderheit", betonte er. So einig viele Politiker sich darin sind, Hetze in Internetforen zu verfolgen, so schwierig bleibt der konkrete Zugriff. Denn auch bei Anbietern wie Telegram sind die Wütenden eher in kleineren Gruppen unterwegs, zersplittert. Die "souveränen" Deutschen sollen sich "für den Tag X organisieren", heißt es in einer ganzen Reihe von Telegram-Gruppen. Es gibt sie bundesweit, aber neuerdings auch für viele verschiedene Regionen, jeweils geordnet nach Postleitzahl, jeweils mit ein paar Hundert Mitgliedern. Die intensivsten Diskussionen finden dezentral statt. Die Großdemonstrationen hätten nichts gebracht, die Politik habe die Menschen nicht erhört, schreiben viele in Gruppen wie "Freiheitsboten" oder "Endkampf für Deutschland". Und daraus schließen einige: Neue Mittel müssen her, um sich Gehör zu verschaffen. So kursieren schon wieder neue Aufrufe, private Adressen von Politikerinnen und Politikern zu veröffentlichen. Eine Liste mit 25 000 Anschriften von angeblichen Antifa-Sympathisanten wird seit Längerem im Netz herumgereicht. Der Forscher Miro Dittrich vom gemeinnützigen Center für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) hat allein 190 Telegram-Gruppen und 34 -Kanäle gezählt, in denen diese Datei in den vergangenen Tagen geteilt worden sei. Manche wie "Sag nein zur Impfpflicht" haben nur knapp 1700 Abonnenten. Aber manche wie "Freiheit macht wahr, Wahrheit macht frei" auch mehr als 34.000. Unter Forschern nimmt die Sorge zu, dass es noch schlimmer kommen könnte "Mit jedem Mal steigt das Risiko, dass jemand wirklich zur Tat schreitet", sagt Dittrich. Sein Institut verzeichnet beinahe täglich neue Gruppen auf Telegram. Die "Freien Sachsen" zum Beispiel, eine Gruppe, in der Videos und Hinweise auf "Montagsspaziergänge" von Annaberg bis Zwönitz ausgetauscht werden, ist von Samstag auf Sonntag schon wieder um zwei Prozent gewachsen, auf nun 108.000 Abonnenten. Unter Forschern wächst die Sorge, dass es noch schlimmer kommen könnte. Die Zahl der Corona-Leugner und Impfgegner sei einerseits im Vergleich zu 2020 deutlich gesunken, sagt der Demokratieforscher der Uni Kassel und Fellow des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Wolfgang Schroeder. "Andererseits erleben wir gerade die Radikalisierung bis hin zur Militarisierung eines kleinen, harten Kerns der Corona-Kritiker". Der könne sich abkapseln und sogar zu "einer Art coronaterroristischem Widerstandskommando entwickeln". Schroeder sieht in der Radikalisierung allerdings keine ganz neue Entwicklung. Einige derzeit aktive Gruppen hätten schon vor den Corona-Protesten zum radikalen Protestpotenzial gezählt und sähen jetzt eine Gelegenheit, "ihre Radikalität besser zu begründen". Schroeder rät zur Wachsamkeit: Besonders gefährdet seien auf allen Ebenen Politiker, die für das Corona-Management Verantwortung tragen.